Leseprobe: Fragen

Fragen
Nun war ich genau so klug wie am Morgen, beinahe genau so klug. Ich wusste zwar immer noch nicht, ob mein Freund nun tatsächlich tot war, ich durfte also weiter hoffen und die Ungewissheit mich weiterhin quälen, doch war ich mir jetzt absolut sicher, kein noch so übel zugerichteter menschlicher Körper, keine in noch so kleine Einzelteile zerlegte, perfide riechende, verweste Leiche, würde mir in Zukunft Übelkeit, Würgegefühle oder schlaflose Nächte bereiten. Nach dem heutigen Tag war ich dagegen immun.
Zuerst durchsuchten Gerak und ich die Gepäckstücke der Passagiere. Doch auch nach stundenlanger Suche konnten wir in dem Durcheinander der geborgenen, teilweise beinahe bis zur Unkenntlichkeit verbrannten, verkohlten, verschmorten Gegenstände nichts finden.
Ich stand vor den Alternativen, unverrichteter Dinge abzureisen und nie zu erfahren, ob er noch am Leben war oder mir die Toten, in den meisten Fällen nur, was von ihnen noch übrig war, anzusehen. Hätte ich geahnt, was mich erwarten würde, ich hätte die Ratschläge der anwesenden Ärzte befolgt, ihnen ein Foto zur Identifizierung auszuhändigen oder mich gleich für Ersteres entschieden.
Gerak konnte sich nicht dazu durchringen, diesen Schritt zu tun, eine sehr weise Entscheidung, wie ich bald feststellen musste. Er gab mir einige Fotos vom letzten Urlaub, wie er sagte und ich begab mich in den für diesen Zweck zur Leichenhalle umfunktionierten Kühlraum eines ortsansässigen Schlachthofs.
Schon bei den ersten beiden verstümmelten und großflächig verbrannten Körpern war ich kurz davor aufzugeben, doch ich unterdrückte die aufkommende Übelkeit und fing mich relativ rasch wieder. Die nachfolgende Begegnung mit weiteren menschlichen Fragmenten, hier ein mit Brandwunden übersäter Torso, dort ein Teil eines Oberschenkels oder Unterarmes, ertrug ich mit Hilfe des makabersten und abscheulichsten Humors, den man sich auf dieser Welt vorstellen konnte.
Ich witzelte mit den anwesenden Ärzten über Schweißfüße und Mundgeruch, über nicht vorhandene Glieder und stellte Mutmaßungen an, ob die Leberschäden einiger Passagiere vom übermäßigen Wodka- oder doch vom Whiskey-Genuss herrührten, ein Absturz ein Gehirn wirklich derart deformieren konnte oder der Schaden nicht doch schon vorher existiert haben musste.
Der Göttin sei es gedankt, ich musste mir nicht alle Leichen ansehen, ich suchte nach zwei weißhäutigen Männern und diese Information beschränkte die Anzahl der zu »begutachtenden Körper und Körperteile« auf zweiundachtzig.
Mein Freund oder Teile meines Freundes waren nicht darunter. Gerak hatte weniger Glück, die Leiche seines Freundes war noch in einem relativ guten Zustand und so hatte ich keine Probleme mit der Identifizierung. Geraks Reaktion auf diese Nachricht ließ bei mir ein weiteres Mal große Zweifel aufkommen, dass da nicht mehr als nur Freundschaft gewesen war, er benötigte Stunden und eine Flasche Gin, um sich wenigstens einigermaßen von einem beinahe Nervenzusammenbruch zu erholen.
Ich konnte sehr gut nachfühlen, was er erdulden musste, war mir ja Ähnliches widerfahren, als ich vom Absturz der Maschine und dem Tod aller Passagiere erfahren hatte.
Stunde um Stunde saß ich neben ihm auf der Couch und dachte nach, versuchte durch Nachdenken zu ergründen, wohin mein Freund verschwunden war, um so die Emotionswellen, die von Geraks Gefühlsausbrüchen ausgingen, ein wenig abzuschwächen. Das war allerdings alles andere als einfach und nicht nur einmal verlor ich mich in seinem Schmerz und trauerte mit ihm, ließ den Tränen ihren Willen.
Gleich nach der erfolglosen Leichenbeschau hatte ich meine Eltern und die meines Freundes angerufen und ihnen mitgeteilt, dass ich noch einige Zeit bleiben wollte, vielleicht fanden sich in den nächsten Tagen ja doch noch Hinweise über seinen Verbleib.
Als Gerak wieder Herr seiner Gefühle war, machte er den Vorschlag zur Absturzstelle zu reisen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir dort mehr finden würden als das Aufräumkommando war zwar gering, doch einen Versuch war es wert.
Wir charterten einen Hubschrauber. Eine uralte Libelle, die trotz ihres Alters und ihres nicht gerade vertrauen erweckenden äußerlichen Zustandes, sie war rostig und ölverschmiert, einen besseren Eindruck auf uns machte, als ihr Pilot. Er schien noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel zu haben und sein Gesamtzustand noch ein wenig desolater zu sein, als der des Fluggerätes. Eine Billig-Fusel-Wolke begleitete ihn auf allen seinen Wegen.
Er versicherte uns jedoch mit weit ausladenden Gesten, der Zustand seiner »Taara« könnte nicht besser sein, die Rostflecken nur eine Tarnung, das Militär hatte ja überall seine Finger im Spiel und er wollte seine Taara auf keinen Fall verlieren. Was seinen eigenen Zustand betraf, so sagte er, wäre er sofort wieder nüchtern, wenn er den Auftrag bekäme.
Obwohl wir bedenken hatten, ließen wir uns überreden und unsere Entscheidung war, wie sich später herausstellen sollte, die einzig richtige gewesen. Der Alte hielt sein Versprechen, er war binnen Minuten vollkommen nüchtern, die Alkoholfahne verschwunden und »Taara« wollte uns anscheinend beweisen, dass sie noch lange nicht zum alten Eisen gehörte.
Wir flogen mit mindestens dreihundert Sachen knapp über den Baumwipfeln Richtung Norden, so knapp, dass ich manchmal instinktiv die Beine ein wenig anhob, um nicht mit ihnen zu kollidieren.
»Müssen wir so schnell fliegen? Und wenn schon schnell, warum so niedrig?«
»Keine Angst Lady, ich weiß, was ich tue, vertrauen Sie mir und Taara. Sie wollen zur Absturzstelle, wir bringen Sie zur Absturzstelle.«
Ich hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen, diese Worte wollten mir so verdammt vertraut vorkommen¹ und ich hatte das ungute Gefühl, sie bedeuteten nichts Gutes.
Der Alte deutete auf eine Rauchsäule einige Kilometer westlich von uns.
»Sehen Sie das?«
»Ich nickte.«
»Militär. Wir befinden uns in militärischem Sperrgebiet.«
»Was?«, fragten Gerak und ich wie aus einem Mund, »Das ist ein Scherz, oder? Ein Scherz, den Sie sich mit jedem Touristen erlauben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Heißt das, wir könnten abgeschossen werden?«
»Könnten schon, doch keine Angst, junge Lady.«
»Die sind zwar schnell mit ihren Fingern am Abzug, doch so schnell auch wieder nicht. Zuerst werden wir über Funk höflich aber bestimmt aufgefordert, das Gebiet sofort zu verlassen, danach steigen zwei oder drei Hubschrauber auf und begleiten uns nach draußen. Schießen werden sie erst auf uns, wenn wir auch diese nette Geste ignorieren und den Begleitschutz dankend ablehnen, einfach weiter fliegen.«
»Sie machen das nicht zum ersten Mal«, fragte Gerak.
Der Alte lächelte.
»Es ist mein Job.«
»Was ist Ihr Job? Das Militär zu reizen?«
»Nein, neugierige Leute in dieses Gebiet zu fliegen.«
»Ich verstehe nicht, stürzen hier öfter mal Flugzeuge ab? Fotografierende Touristen meinen Sie wohl nicht, oder?«
Entweder war ich heute schwer von Begriff oder dieser Mann sprach tatsächlich in Rätseln.
»Gerüchte.«
»Welche Gerüchte?«
»Ich habe den Eindruck, in Europa weiß man wirklich sehr wenig über die Dinge, die außerhalb der sogenannten zivilisierten Welt geschehen. Sie kommen doch aus Europa?«
»Ja. Welche Dinge?«
»Seltsame Dinge geschehen.«
Der Alte schien nicht sehr gesprächig zu sein. Oder hatte er es einfach satt immer wieder die gleichen langweiligen Fragen der vielen Touristen beantworten zu müssen? Ich konnte das verstehen, trotzdem wollte ich genauere Informationen.
»Seltsame Dinge? Diese Welt ist wirklich in vielerlei Hinsicht ›seltsam‹, da haben Sie recht, doch was verstehen Sie unter seltsame Dinge?«
Gerak wirkte plötzlich nervös, ein für mich nicht greifbares Etwas schien ihn zu beunruhigen. Er starrte auf den Dschungel unter uns, und das Aneinanderreiben seiner Hände, so als wäre ihm kalt, beanspruchte offenbar seine ganze Aufmerksamkeit.
Meine interne Alarmsirene begann plötzlich zu heulen. Ich konnte jedoch keinen plausiblen Grund erkennen, warum mein normalerweise absolut unbestechliches Vorwarnsystem aus heiterem Himmel auf Volllast lief.
»Was hast du?«, fragte ich dementsprechend verwirrt.
Geraks Hände hielten kurz in ihrer Arbeit inne.
»Ich glaube, ich weiß, was er meint. Er spricht von Ufo-Sichtungen, von Außerirdischen, von Verschwörungstheorien und dergleichen.«
»Ufos?«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, die Sirene verstummte augenblicklich.
»Sie wollen uns doch nicht einreden, hier irgendwo sei ein Fluggerät kleiner grauer Männchen gelandet?«, fragte ich den Alten amüsiert.
»Möglich.«
Ich musste lachen.
»So ein Blödsinn. Und die Story mit dem Militär ist wahrscheinlich auch frei erfunden.«
Ich lehnte mich zurück und versuchte mich zu entspannen. Die Geschichte war für mich erledigt.
Gerak ließ sich nicht beirren und fragte weiter.
»Das Militär war nicht immer hier stationiert?«
»Nein. Vor drei Jahren sind sie angerollt, haben ein Gebiet von ungefähr 10 000 km² abgeriegelt und lassen seitdem keine Zivilperson auch nur in die Nähe des Zentrums dieser riesigen Fläche. Zumindest kenne ich niemanden, der es geschafft hat und lebend zurückgekehrt ist.«
»Es hat Tote gegeben?«
»Wahrscheinlich sind sie tot, sie sind einfach von der Bildfläche verschwunden, so als hätten sie nie existiert. Die PR-Abteilung des ARA-Stützpunktes weiß natürlich von nichts.«
»Und Ihre Meinung?«
»Sie wurden eiskalt abgeknallt. Abgeknallt, weil sie etwas gesehen haben, was sie nicht sehen hätten dürfen.«
»ARA? Der Codename dieser Aktion?«
»Ja. Doch die Geheimhaltung, der materielle und personelle Aufwand, um dieses Gebiet von der Außenwelt abzuschirmen, ist nichts Ungewöhnliches. Strikte Geheimhaltung jeder auch noch so unwichtigen Nebensache ist ja die Lieblingsbeschäftigung der Militärs dieser Welt. Und ich weiß das nur zu gut, war ich doch selbst lange genug bei diesem Verein.«
»Was mich persönlich ein wenig stört, ist diese massive Präsenz ausländischer Truppen.«
Geraks Augenbrauen hoben sich.
»Amerikaner?«
»Auch. Neben Russen, Chinesen, Japanern, Deutschen, Israelis, Iranern, Libyern, Kubanern und so weiter. Jedes Land dieser Erde scheint zumindest mit einem militärischen Gesandten vertreten zu sein. Und das ist das Merkwürdige. Gruppierungen, die sich normalerweise nicht riechen können, sich teilweise seit Jahrzehnten in den Haaren liegen, arbeiten plötzlich zusammen, daran ist was oberfaul, das stinkt zum Himmel.«
»Und was glauben Sie, haben sie zu verbergen?«
»Ich weiß es nicht. Es kann alles Mögliche sein.«
»Außerirdische? Eine Basis der Geheimregierung? Menschenversuche? Psi?«
Der Alte schwieg. Er war offenbar der Meinung, er hätte genug gesagt. Jede weitere Frage blockte er mit dem Hinweis ab, wir näherten uns der Absturzstelle und der Anflug erfordere seine ganze Aufmerksamkeit.
»Du glaubst diesen Schwachsinn doch nicht«, fragte ich Gerak leise.
Die Antwort war kurz und bündig und erfolgte aus einer ganz anderen Richtung und auf eine Weise, die niemand hatte voraussehen können.
Ich sah einen kurzen Lichtblitz, kurz darauf legte sich der Hubschrauber auf die Seite, der Rotor streifte einige Baumwipfel, was zur Folge hatte, dass sich »Taara« zuerst einmal um ihre Längsachse drehte und danach wie ein Stein zu Boden stürzte. Ich hing benommen im Sitz. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, öffnete jemand die Haltegurte und zerrte mich aus dem Hubschrauber. Ich stolperte und fiel hin.
»Was zum Teufel …«
Meine Stimme versagte. Der Lauf einer Maschinenpistole zeigte auf einen imaginären Punkt zwischen meinen Augen. Der Alte deutete mir, ich solle den Mund halten. Seine Nase schien gebrochen, er war beim Aufprall wohl mit dem Kopf gegen das Steuerpult geknallt, Blut suchte sich einen Weg über seine Lippen und tropfte vom Kinn auf den Boden.

[…]


1 »Sledge Hammer! (zu deutsch: Vorschlaghammer) ist eine US-amerikanische Fernsehserie aus den 1980er-Jahren. Das Konzept der 25 minütigen Krimi-Parodie stammt von Alan Spencer. Hauptfigur ist der gleichnamige Polizist Sledge Hammer (eine Anspielung auf die Romanfigur Mike Hammer von Mickey Spillane). Berühmtestes Zitat der Sledge-Hammer-Figur ist der Satz: Vertrauen Sie mir – ich weiß, was ich tue! (engl. Original: Trust me. I know what I’m doing.).« – Wikipedia: Sledge Hammer!