Leseprobe: Erwachen

Sie verlor den Halt unter den Füßen, kollerte einen steilen Abhang hinunter und schlug mit dem Kopf gegen einen Baumstumpf. Sie rieb sich benommen ihren dröhnenden Schädel.
»Wo bin ich?«
Vogelgezwitscher lockte sie in die Realität.
Sie sog erleichtert die kühle Luft des wunderbar duftenden Maimorgens ein und war sogleich vollkommen entspannt.
»War das ein Albtraum, ich glaube ich bin urlaubsreif.«
»Schläfst du noch?«
Sie drehte sich auf die Seite und wollte ihren Freund wecken, doch die andere Betthälfte war leer, die Bettdecke unberührt.
Sie erschrak, wuchtete ihren Oberkörper hoch, saß aufrecht im Bett. Dutzende Gedanken jagten durch ihr Gehirn.
»Ist er gestern nicht nachhause gekommen? Hat er sich in der Nacht unbemerkt davongeschlichen? Hat er woanders übernachtet? Ist er schon aufgestanden und macht frühstückt? Ist er auf der Toilette?«
Es dauerte nicht lange und sie erinnerte sich wieder.
Sie ließ sich mit einem tiefen Seufzer ins Bett zurückfallen.
»So ’ne Scheiße. Was ist mir da bloß wieder für ein Schwachsinn eingefallen?«
Ein Stein materialisierte sich in ihrem Magen. Sie rieb sich ihre Schläfen.
Sie lag einige Zeit bewegungslos da, versuchte das Wirrwarr in ihrem Gehirn zu ordnen, ein wenig Ruhe in den aufgescheuchten Bienenschwarm zu bringen.
»War das notwendig gewesen?«, fragte eine Stimme.
»Eigentlich nicht«, antwortete eine andere.
»Es hätte sicher eine bessere Lösung gegeben, bestimmt hätte es das«, warf eine Dritte ein.
»Was wäre gewesen, wenn du dich mal mit ihm an einen Tisch gesetzt und dich mal mit ihm unterhalten hättest?«, sagte eine Vierte.
»Klar hat er seine Macken, und was für welche, doch ihm gleich den Todesstoß zu versetzen?«, meinte eine Fünfte.
»Nicht nur ihm, auch uns. Ihr würdet es wahrscheinlich nie zugeben, doch ich leide schon jetzt darunter«, sagte die Erste.
»Ruhe, verdammt noch mal«, schrie sie, »es ist geschehen, daran lässt sich nichts mehr ändern.«
Sie sprang aus dem Bett und stellte sich unter die Dusche. Sie genoss das eiskalte Wasser auf ihrer Haut, das alle trüben Gedanken von ihr fortspülte, durch den Abfluss hindurch, hinunter in den Kanal, weit weg von ihr.
Zumindest für eine Weile.
Sie trocknete sich ab und da waren sie wieder, die sieben kleinen Nörgler und Besserwisser, die an ihren Nerven zerrten. Heute waren sie besonders unausstehlich, vielleicht nicht ohne Grund.
»Ruf’ ihn an, lad’ ihn auf ’ne Pizza ein und sprecht euch mal aus, noch ist nichts verloren.«
»Ja, genau, bestimmt wartet er auf deinen Anruf.«
»Ihr habt recht«, gab sie sich geschlagen, »ich rufe ihn an, doch nicht heute.«
Ein allgemeines Protestgeschrei.
Sie ließ sich nicht beirren.
»Warten wir bis morgen, ich bin mir sicher, er meldet sich bis dahin bei mir, dann haben wir den Vorteil, dass er uns um etwas bittet und nicht umgekehrt, einverstanden?«
Sie waren nicht einverstanden, doch noch hatte sie die Herrschaft über ihren Körper und so wurde getan, was sie befahl.
Der Tag verging, das Telefon blieb stumm.
Ihr Schlaf war unruhig, sie wachte in dieser Nacht Dutzende Male auf, träumte immer wieder denselben Traum.
Sie stand auf einem Hügel, es war früh am Morgen und sie wartete auf den Sonnenaufgang. Doch Minute um Minute verging, ohne dass die Sonne sich am Horizont zeigen wollte.
Des Wartens überdrüssig wandte sie sich ab und musste entsetzt feststellen, die Sonne war schon aufgegangen, stand hoch über dem Horizont, über dem Westhorizont.
Am Morgen fühlte sie sich wie gerädert. Noch bevor sie sich ins Badezimmer schleppte, vergewisserte sie sich, dass die Sonne im Osten stand.
»So ein Schwachsinn«, dachte sie unter der Dusche, »ich benötige wirklich bald einen langen Urlaub.«
»Vielleicht sollten wir …«
»Jetzt oder nie!«
Sie stürmte zum Telefon, vergaß sogar darauf, sich abzutrocknen, und wählte seine Nummer.
Hunderte Ausreden, die den Grund ihres Anrufes erklären sollten, falls er abhob, schossen ihr durch den Kopf.
Doch je öfter es klingelte und je länger es dauerte, umso weniger war sie sich sicher, dass sie überhaupt ein Wort hervorbringen würde.
Sie legte auf.
»Ist wohl noch zu früh, ich versuche es später noch mal.«
Sie frühstückte, machte den Fernseher an.
»… ereignete sich gestern Nacht ein folgenschwerer Flugzeugabsturz. Dabei kamen wahrscheinlich alle 268 Passagiere und zwölf Besatzungsmitglieder ums Leben …«
»Solche Nachrichten am frühen Morgen bringen Kummer und Sorgen«, sagte sie und wechselte den Kanal.
Halb neun Uhr, sie wählte seine Nummer, er meldete sich nicht.
»Wahrscheinlich ist er schon in der Firma, wird Zeit, dass auch ich mich auf den Weg mache.«
»Ruf’ ihn dort an«, forderten die Stimmen in außergewöhnlicher Einmütigkeit.
»Vom Arbeitsplatz aus«, trieb ich mich zu unnötiger Eile an, »ich habe keine Zeit mehr.«
Jetzt lügt sie sich schon selbst an.
Sie saß vor ihrem Monitor und kaute an den Fingernägeln.
Er war nicht in der Firma erschienen, hatte auch keine Nachricht hinterlassen und bei ihm zu Hause meldete sich niemand, nicht einmal der Telefonanrufbeantworter.
Es war drei Uhr. Sie schaltete den Computer aus und ging.
Sie fuhr zu ihm nachhause, suchte unterwegs nach einer passenden Begrüßung, fuhr an seiner Wohnung vorbei, parkte drei Wohnblocks weiter.
Langsam schlenderte sie durch die Straßen, benötigte drei Stunden für die zweihundert Meter von ihrem Auto zu seiner Wohnung.
Sie stand vor der Eingangstür. Ihr Magen verkrampfte sich, ihr Gaumen wurde trocken. Sie klingelte.
Sie wartete. Sie klingelte erneut. Sie wartete, drei Minuten, fünf Minuten, sie glaubte, eine Ewigkeit zu warten.
Sie nahm ihren Schlüsselbund aus der Tasche, atmete einige Male tief durch und schloss die Wohnungstüre auf, rief nach ihm.
Keine Antwort.
Sie lenkte ihre Schritte ins Schlafzimmer.
»Typisch, lässt alles stehen und liegen, wo’s hinfällt.«
Sie begann die Betten zu machen, das Zimmer aufzuräumen.
»Warum tust du das, du bist doch nicht seine Putzfrau?«, fragte eine ihrer Nervensägen.
»Du hast recht.«
»Ich hol’ mir mal ’nen Kaffee.«
Sie öffnete die Küchentür. Ein Sessel war umgekippt, lag am Boden.
»Was riecht hier so verbrannt?«
Sie ging zum Elektroherd, nahm den Deckel vom Topf, der darauf stand.
Sie verzog angewidert ihr Gesicht.
»Iiih, was sollte denn das werden?«
Übel riechende, verkohlte Klumpen befanden sich im Topf.
Sie füllte ihn mit Wasser, gab ein Spülmittel hinzu und stellte ihn wieder auf eine Kochplatte.
»Warum funktioniert hier nichts?«
»Die Kochplatte war ja eingeschaltet, sehr leichtsinnig. Wo ist der Verteilerkasten?«
Sie saß im Wohnzimmer, trank einen Kaffee, den dritten, und wartete.
»Neun Uhr, wo kann er nur sein?«
Bei seinen Eltern war er nicht, sie hatte dort angerufen, seine Freunde konnten ihr auch nicht weiterhelfen.
»Eine neue Freundin? Hat aber schnell Ersatz gefunden.«
»Blödsinn.«
Sie stöberte in seinem Schreibtisch, fand dort, fein säuberlich in einer kleinen Schachtel verpackt ihre Liebesbriefe, die sie ihm vor über einem Jahr geschrieben hatte, vielleicht waren es auch schon zwei.
Sie nahm die Briefe aus der Schachtel. Ein Flugticket kam darunter zum Vorschein.
»Neuseeland, ich werd’ verrückt. Mein Name …«
Sie musste sich hinsetzen.
»Er will mit mir nach Neuseeland fliegen, mit mir Urlaub machen, ich fasse es nicht.«
»Wann?«
»Gestern.«
Sie schloss ihre Augen, eine Träne lief über ihre linke Wange.
»Er, Urlaub, mit mir.«
»Er wollte sich Zeit nehmen, für mich, für uns, vier Wochen lang. Nie hätte ich das für möglich gehalten …, er wollte es mir beweisen …, nie hätte er es gesagt …, er liebt mich.«
»Dumme Nuss, du wusstest es ja ohnehin, wolltest Beweise sehen, hier hast du deinen Beweis.«
1
Sie lag auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Viele Orte gab es nicht mehr auf dieser Welt, an denen sie ihn in Gedanken noch hätte suchen können, viele Gründe mochte es nicht mehr geben, die noch nicht von ihr gedacht worden waren und hätten erklären können, warum er noch nicht zu Hause war.
Stunde um Stunde verging.
Die Orte und Gründe nahmen immer groteskere Formen an. Sie war beunruhigt, ängstigte sich um ihn, wünschte sich sehnlichst, er läge bei einer anderen Frau, nur ja kein Unfall, bei dem er verletzt oder gar getötet worden war.
Sie raffte sich auf, verließ seine Wohnung, klapperte die Kneipen, Discos und Bars ab, in denen er sich gewöhnlich umhertrieb, klingelte seine Freunde aus dem Schlaf, streifte ziellos durch die Straßen.
Niemand hatte ihn gesehen, wusste etwas oder hatte etwas gehört. Es war nicht nur, als hätte der Erdboden ihn verschluckt, offenbar hatte er ihn wirklich verschluckt. So wie es aussah, war sie die Person gewesen, die ihn zuletzt gesehen, mit ihm gesprochen hatte.
Es war vier Uhr am Morgen, sie schleppte sich todmüde nachhause, hoffte, er wartete dort auf ihre Heimkehr und würde ihr eine Szene machen, würde ihr vorwerfen, sie wäre ihm untreu und ihr lautstark mitteilen, was er davon hielte, wenn sie nächtelang mit Freundinnen durch die Stadt zog.
Sie drehte den Schlüssel im Schloss und in ihrem Gehirn machte es klick: das Flugticket!
Sie stürmte zum Telefon, rief die Fluglinie an, wunderte sich nur kurz über die Tatsache, dass jemand um diese Zeit abhob, erkundigte sich, ob er gestern Nacht an Bord der Maschine nach Neuseeland gewesen war und sah sich plötzlich mit einer Auskunft konfrontiert, die ihr den Boden unter den Füßen wegriss, ihre heile Welt einstürzen ließ, sie unter einen tonnenschweren Seelentrümmerhaufen begrub, ihr Leben in einen Scherbenhaufen verwandelte.
Er war an Bord gewesen, das Flugzeug über Thailand abgestürzt, alle Passagiere tot.
Sie hielt den Hörer in der Hand, unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu rühren, ihn einzuhängen. Sie saß da und war nicht einmal imstande zu weinen, war in diesen Minuten zu nichts imstande.
Sie saß einfach da und starrte den Telefonhörer an, konnte es nicht fassen, dass dieses unscheinbare Ding die Frechheit besaß, ihr diese Horrornachricht in völliger Gleichgültigkeit zu übermitteln, ohne die geringste Gefühlsregung, ohne auch nur eine Zehntelsekunde darüber nachzudenken, was diese Botschaft in ihr auslösen würde und es vielleicht besser gewesen wäre, sie ihr vorzuenthalten.
Ihre Gedanken bewegten sich im Kreis.
»Er schenkt mir eine Reise nach Neuseeland und ich verlasse ihn dafür. Im Augenblick wäre ein Urlaub unmöglich gewesen, jetzt, so kurz vor der Fertigstellung des Management-Paketes, so kurz vor der Übergabe, wir hätten die Reise verschieben müssen, hätte ich nicht so unüberlegt gehandelt, ihn nicht verlassen, verlassen wegen solcher Lappalien, er wäre noch am Leben.«
»Du musstest ja wieder einmal deine Sturheit hoch zwei unter Beweis stellen, deinen Dickschädel durchsetzen, unser aller Bitten und Flehen wohlwollend überhören, nein, nur nicht anrufen, er wird sich schon melden, er, der wahrscheinlich noch dickköpfiger ist, als du es in deinen besten Zeiten warst, das hast du jetzt davon, das habt ihr nun vom ewigen Kampf um die Krone des härtesten Holzkopfes.«
Ich habe gespielt, ohne den Einsatz zu kennen und alles verloren, sogar sein Leben.
»Wir hätten die Reise verschieben müssen und er wäre am Leben, hätten sie verschieben müssen, aus dem gleichen Grund, aus dem ich ihn verlassen hatte, keine Zeit, er hatte zu wenig Zeit für mich, er wäre noch am Leben, weil ich keine Zeit für ihn gehabt hätte, keine Zeit für einen gemeinsamen Urlaub.«
»Wir haben uns im Streit getrennt und nie wird er nun erfahren, dass ich ihn geliebt habe, liebe …«
»Im Streit? Ihr habt nicht gestritten, du bist einfach gegangen, natürlich war er schuld, sein unnachahmlich ignorantes Verhalten deinem Freiheitsdrang, deinem kompromisslos ausgelebten Freiheitsdrang gegenüber.«
»Klar, niemand kann dir vorschreiben, wie du dein Leben zu leben hast, er hätte es sicher verstanden, hättest du dich nur dazu entschließen können, mal ein kurzes Gespräch mit ihm zu führen, nur mal kurz deinen Mund aufzumachen und alles wäre eitel Wonne gewesen, stattdessen tot …«
»Warum ich? Er hat’s doch auch nie versucht?«
»Und warum hat er nicht? Und tu’ nicht so, als wüsstest du die Antwort nicht …«
Der Telefonhörer flog im hohen Bogen von ihr fort, riss das Telefon mit sich und fiel krachend auf den Boden, sie sprang abrupt auf, gab dem Telefon einen Tritt, dass es scheppernd gegen die Wand knallte und in seine Einzelteile zerfiel.
»Hört auf«, schrie sie, »hört auf, lasst mich in Ruhe.«
»Ja ich weiß warum, ich weiß es, verdammt noch mal ich weiß es …, ich konnte doch nichts dafür …«
»Er auch nicht.«
»Ich hätte …«
Tränen liefen über ihr Gesicht, ihre Muskeln wurden schlaff, verweigerten ihren Dienst, sie fiel, lag am Boden, weinte hemmungslos, ihr Körper bebte, verkrampfte sich mit jedem Schluchzen.
Minuten vergingen, alle Versuche, die außer Kontrolle geratenen Seelenzustände wieder in geordnete Bahnen zu drängen, schlugen fehl. Ihre Hände krallten sich im Stoff des Sofas fest und zogen sie hoch, hinauf auf die Sitzfläche.
»Ich muss seine Eltern anrufen.«